Mancher wird mich wohl einen Musikbanausen nennen, aber ich habe halt nie Interesse an musikalischer Bildung gehabt. Und jetzt haben wir zu unserem Hochzeitstag von meinen Schwiegereltern diese Konzertkarten geschenkt bekommen, für das Bremer Philharmonische Orchester. Sie waren der Meinung, wir müßten öfter mal aus unserem Dorf raus, und meine Frau war natürlich wieder sofort begeistert.
Eine Begeisterung, die ich überhaupt nicht teile. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich an so einem Konzert Freude finden werde, und im übrigen ist mir bei dem Gedanken an Autofahren im Dunkeln in der Stadt auch nicht besonders wohl.
Wir kommen schließlich auch ziemlich spät an. Unsere Plätze sind in der fünften Reihe halbrechts, die Leute machen uns nur widerwillig Platz, und es kann immer nur einer den Arm auf die Lehne zwischen uns legen. Da kommen auch schon die Musiker. Zuerst spielen sie alle ziemlich wirr auf ihren Instrumenten herum, als müßten sie sie erstmal ausprobieren, aber dann klopft der Dirigent ein paarmal auf sein Pult, und es geht los.
Besonders aufregend ist das Ganze nicht. Die Musik ist viel zu langsam, als daß ich ihr irgend etwas abgewinnen könnte. Zum Glück sitzen wir weit genug vorne, da kann ich mir die Zeit damit vertreiben, mir die Musiker anzuschauen.
Dieser Dirigent zum Beispiel sieht gar nicht so aus, wie ich mir einen Musiker vorgestellt habe. Ich hatte immer eine Zeichnung von Wilhelm Busch vor Augen; Ein hagerer Mensch mit spitzer Nase und langen Haaren, er bearbeitet das Klavier, daß Haare und Frackschöße nur so fliegen.
Unser Dirigent hingegen erinnert mich eher an Boris Becker, wenn man diesem nämlich noch eine Brille aufsetzen würde, und er scheint beim Dirigieren jetzt tatsächlich fast einzuschlafen.
Was ist denn das? Von der rechten Seite kommt jemand, und das ist doch 'mein' Musiker, der Pianist von Wilhelm Busch! Er scheint sich über irgend etwas ziemlich aufzuregen und stapft mit großen Schritten auf den Dirigenten zu. Jetzt baut er sich doch tatsächlich vor ihm auf und übernimmt die Leitung des Orchesters!
Ein ganz und gar unerhörter Vorgang! Ich drehe mich um, schaue in das Publikum, aber die Leute scheinen nichts dabei zu finden, außer der üblichen Aufmerksamkeit kann ich in den Gesichtern keine Gemütsregung bemerken. Der einzige, der völlig fassungslos ist, ist unser Dirigent, der mit hängenden Schultern und offenem Mund zusieht, wie der andere jetzt das Tempo steigert.
Schließlich findet 'Boris' seine Handlungsfähigkeit wieder, und jetzt ist er es, der sich vor den anderen stellt und zu dirigieren anfängt, wobei er sich große Mühe gibt, seine Musiker wieder zu langsamerem Spielen zu veranlassen.
Das ist dem Langhaarigen aber gar nicht recht, seine Bewegungen werden immer energischer, seine Frackschöße fangen an zu flattern und sein Gesicht wird rot wie eine Paprikaschote. Die Musiker sind sich anscheinend nicht klar darüber, wie sie sich verhalten sollen, ein Teil richtet sich nach dem einen, ein Teil nach dem anderen Dirigenten, und ein paar haben ganz aufgehört zu spielen.
Jetzt fangen beide Dirigenten an, sich gegenseitig mit der Schulter wegzudrängen, der Blonde fuchtelt mit seinem Stock über seinem Kopf herum, beide gehen aufeinander los, wollen sie sich jetzt etwa prügeln?
Im letzten Moment überlegen sie es sich noch einmal. Sie scheinen eine Art Abkommen zu treffen und teilen danach mit kurzen Handbewegungen das Orchester auf, einer links, einer rechts, und jeder dirigiert seine eigene Hälfte in seinem eigenen Tempo.
Und das klingt auf einmal außerordentlich gut! Die langsame und die schnelle Musik ergänzen sich prima, und hingerissen höre ich zu, jetzt bereue ich nicht mehr, gekommen zu sein.
Donnernder Applaus!
Ich fahre aus meinem Sitz hoch. Der blonde Dirigent verbeugt sich vor dem Publikum. Wo ist der andere geblieben? "Mit dir gehe ich nie wieder in ein Konzert!", zischt meine Frau. "Du hast geschnarcht!"
12/1992
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