Winterpaddeln

Speziell für Chris

In Rotenburg (Wümme) gab es zwei Kanuvereine und unter den Mitgliedern derselben immer einen kleinen inoffiziellen Wettstreit, wer denn als erstes im Jahr paddeln geht. In jenem Jahr stellten wir leicht erstaunt fest, dass die üblichen Verdächtigen diesmal den Neujahrstag offenbar anderweitig genutzt hatten, und beschlossen, das auszunutzen.

Also ließen wir, nämlich Thomas, Jörg und ich, uns am Sonntag, dem 04.01.1987, von Jörgs Vater nach Stemmerfeld bringen. Nachdem die Boote abgeladen waren, verabschiedete sich unser Chauffeur mit milden Ausdrücken des Unverständnisses über unsere verrückte Aktion, und es konnte losgehen.

Es kann losgehen! Zu Silvester hatte es geschneit, und bei Tagestemperaturen von minus 3 bis 5 Grad lag immer noch etwa eine Handbreit Schnee überall, es war also richtig Winter in Norddeutschland. Das ergab eine ganz tolle, weil zugegeben auch für uns ungewohnte Atmosphäre, als wir die Boote bestiegen und durch tief verschneite Waldstücke und Gehölze fuhren. Denn wenn man im Winter spazieren geht, folgt man dabei ja normalerweise immer irgendwelchen Wegen, auf denen in der Regel vorher schon andere Leute gegangen sind und ihre Spuren hinterlassen haben. Hier befanden wir uns jedoch in einer völlig unberührten, jungfräulichen Winterwelt, die keinerlei Anzeichen menschlicher Anwesenheit zeigte.

Das gab es jedoch nicht umsonst. Insbesondere in meinem Fall, der ich als Azubi mir keine hochwertige Ausrüstung leisten konnte, wurde das zu Beginn mit verdammt kalten Fingern bezahlt. Mein dünnes Paar Handschuhe ließ viel Wärme durch nach außen, welche von dem (damals hochmodernen) Paddelschaft aus Aluminium (das Paddel hatte ich mir aber auch nur geliehen) sofort weitergeleitet wurde. Das gab dann zwei unangenehme Abschnitte: Zuerst wurden die Fingerspitzen gefühllos, und irgendwann, als ich mich warm gearbeitet hatte, tauten sie unter Schmerzen wieder auf. Aber das ging vorüber, und ich konnte die Fahrt bald wieder genießen.

Dafür bekamen wir nach kurzer Zeit ein neues Problem. Denn es gab auf der Strecke ein paar Brücken, die schon bei normalem Wasserstand relativ wenig Platz darunter boten. Wir hatten jetzt aber Hochwasser, was zwar den schönen Effekt hatte, dass wir prima über das Ufer hinweg in die Landschaft gucken konnten, aber unter diesen Brücken passte nun nicht einmal mehr ein leeres Kajak noch durch.

Da hieß es also aussteigen und umtragen.

Und weiter geht's Das mag man normalerweise nicht so gerne. Nicht nur, dass Aus- und Einsteigen und Boote schleppen anstrengender ist als Paddeln, sondern jetzt bei der Kälte machte es sich auch sofort unangenehm bemerkbar, wenn man die Spritzdecke öffnete. Denn die abgeschlossene Luft innerhalb des Kajaks heizt sich doch immer spürbar auf. Da waren wir also ganz froh, als Thomas erklärte, es reiche ja, wenn einer aussteigt, und uns in unseren Booten sitzend über die Wiese zog. Dazu mussten wir nur mit Anlauf ein kleines Stück die Böschung hinauffahren, die bei dem hohen Wasserstand ja nur etwas höher war als die Wasseroberfläche. So wurde auch dies auf eine (zumindest für uns beide) elegante Weise gelöst.

Eisbrecher Aber die Schwierigkeiten waren damit noch nicht ausgestanden, sondern sollten erst noch richtig beginnen. Denn hinter den niedrigen Brücken kamen wir zu einem Abschnitt, wo das Gelände noch flacher wurde. Hier hatte die Wümme die umliegenden Wiesen überflutet und unter Wasser gesetzt. Das stehende Wasser dort war längst wieder gefroren, und das Eis trug ebenfalls Schnee, man konnte den Unterschied nur daran erkennen, dass eine Wiese eben nie vollkommen eben ist. Nun hatte sich aber dadurch, dass das Wasser zur Seite ausweichen konnte, die Strömungsgeschwindigkeit im eigentlichen Flusslauf soweit verringert, dass es hier ebenfalls begann, langsam zuzufrieren. War es zu Anfang noch ganz spaßig, sich durch die Eisschicht zu knurpsen, wurde das Eis doch kontinuierlich dicker, und wir mussten bald schon mit Anlauf auf das Eis fahren, um es unter unserem Gewicht zu zerbrechen. Dabei störten dann auch die Eisschollen mehr und mehr. Zunächst konnten wir uns noch behelfen, indem wir sie unter die Eisdecke schoben, die Strömung trug sie dann fort. Aber irgendwann passierte auch das nicht mehr, da muss der Fluss unter uns unbemerkt nach links oder rechts abgebogen sein.

Dann dauerte das auch gar nicht mehr lange, und die Eisfläche brach nicht mehr unter unserem Gewicht, und wir saßen auf dem Trockenen. Jetzt auszusteigen trauten wir uns aber nicht, denn die Aufstandsfläche unserer Schuhe war deutlich kleiner als die Unterseite unserer Kajaks, und da wären wir möglicherweise doch eingebrochen. Bei geschätzten 20 cm Wasser auf der Wiese wäre das zwar nicht lebensgefährlich, aber doch unangenehm geworden. Da half nur eines: Rechts und links neben dem Boot mit den Händen auf das Eis drücken und sich zentimeterweise vorwärts schieben. Eine wahrhaft anstrengende Art der Fortbewegung! Wir diskutierten zwar emsig über Erleichterungen in Form eines Eispickels oder ähnlicher Gerätschaften, aber eine Feldschmiede hatte gerade keiner zur Hand.

Frage nach dem Weg Da hinten soll die Wümme sein Erst, als uns ein Bauer in Gummistiefeln mit seinem Hund entgegenkam, wagten wir es, die Boote zu verlassen, was inzwischen auch problemlos ging. Den konnten wir dann auch gleich nach dem Weg fragen (sinngemäß: "Wo ist denn hier die Wümme?") Der gute Mann muss uns für komplett bescheuert gehalten haben, er ließ sich aber freundlicherweise nicht viel davon anmerken.

So wurden die Boote dann über einen Ackerweg gezogen, der zur letzten der niedrigen Brücken führte, die letzten Meter ging es wieder in inzwischen bewährter Schildkrötentaktik vorwärts, und hinter der Brücke war der Bach dann auch wieder eisfrei.

Der Rest der Tour ging dann auch problemlos vonstatten.

Und wenn mich jetzt jemand fragt, ob wir denn nun tatsächlich die ersten Rotenburger Paddler waren in jenem Jahr, dann muss ich sagen, dass ich das nie genau wusste und es mir auch damals schon eigentlich ziemlich egal war...


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